
Ein großer Teil meiner wissenschaftlichen Forschung beschäftigt sich mit einem Teil der Bibel, dem sogenannten Neuen Testament. Dabei handelt es sich um eine Sammlung recht kurzer Schriften aus dem ersten und (vermutlich) zweiten Jahrhundert, welche uns Einblicke in das Leben und Denken der ersten Christ:innen geben. Zugleich bilden diese Texte die Grundlage für christliche Theologie, bis heute. Freilich greifen unterschiedliche Konfessionen auf verschiedene Weise auf dieses Fundament zurück. In der katholischen Kirche spielt etwa die kirchliche Tradition eine weitere wichtige Rolle. In den protestantischen Kirchen sieht es etwas anders aus, weil Martin Luther ganz zentral "allein die Schrift" (sola scriptura) als Grundlage der Theologie ausgerufen hatte.
Unterschiedliche protestantische Glaubensströmungen gehen freilich selbst auch wieder sehr divers mit diesem Fundament um, je nachdem, welche Hermeneutik sie vertreten. Beispielsweise gehen konservative evangelikale Strömungen von der Unfehlbarkeit der Schrift aus und übertragen viele Aussagen und Aufforderungen recht ungebrochen auf die heutige Lebenswelt. Die universitäre Theologie im deutschsprachigen Raum arbeitet schon lange in einem "historisch-kritischen" Paradigma. Kritiker:innen stellen das oft so dar, als ginge es dabei darum, die Bibel möglichst zu zerpflücken und zu relativieren. Das finde ich so nicht fair. Die Texte ernstzunehmen, muss doch auch bedeuten, sie in ihrer historischen Verankerung genau zu analysieren.
Die Autoren (vermutlich alles Männer) und die Empfänger:innen lebten in einer ganz anderen Zeit als wir. Wer von uns steht heute etwa noch vor dem Problem (wie die Christ:innen in Korinth, an die der Apostel Paulus schrieb), zu Geburtstagsfeiern eingeladen zu werden, bei denen Fleisch serviert wird, welches von Tieren stammt, die im Rahmen von Götzenopfern geschlachtet wurden? Freilich: Erkennt man, dass diese Texte oft solche hochspezifischen Bezüge zu antiken Kontexten haben, werden sie uns oft erstmal fremd. Das macht es sicherlich schwieriger, einzelne Verse direkt auf unseren Alltag zu übertragen. Intellektuelle Redlichkeit und auch Respekt vor diesen Texten und ihren Urhebern macht das in meinen Augen aber unumgänglich. Deswegen beschäftige ich mich in meiner Forschung etwa mit der Frage, wie genau diese biblischen Geschichten erzählt sind, die uns bis heute prägen. Oder damit, wie die ersten Christ:innen als Minderheit im römischen Reich lebten, welches so anders ist als das politische System, in dem wir heute leben.
Aber betrachtet man diese "bibelwissenschaftlichen" Analysen im Kontext christlicher Theologie, dann stellt sich natürlich die Frage, wie (oder ob überhaupt!) wir von diesen hochspezifischen Ergebnissen zur heutigen Lebenswelt gegenwärtiger Christ:innen kommen können. Mit dieser Frage beschäftigt sich im Kontext theologischer Fakultäten die sogenannte Systematische Theologie (unterteilt in Dogmatik und Ethik). Aber ich finde, die Bibelwissenschaftler:innen dürfen sich auch nicht ganz auf die Beantwortung rein historischer Fragen zurückziehen. Denn niemand kennt diese Texte besser als sie. Es scheint mir daher schlicht nicht fair, den Kolleg:innen in der Systematischen Theologie alleine die Aufgabe zu überlassen, darüber nachzudenken, wie diese Texte heute noch relevant sein könnten. Man sollte deren hermeneutischen Überlegungen doch zumindest dadurch produktiv zuarbeiten, dass man Aspekte in den Blick nimmt, die einem durch die Nähe zum Text als für weiterführende Diskurse potenziell sehr relevant erscheinen. Deswegen beschäftige ich mich auch sehr intensiv mit Künstlicher Intelligenz. Auf der einen Seite könnte diese nicht weiter weg sein von den Münzen, Papyri-Schnipseln und archäologischen Daten, mit denen ich mich jeden Tag herumschlage. Auf der anderen Seite ist es genau dieser mir so klar vor Augen stehende Kontrast zwischen den "verstaubten" Texten und der so glänzenden neuen Technologie, die mir zeigt, dass hier ein Spannungsfeld existiert, das zu beackern sich lohnen könnte.
Wie ich neulich bekanntgegeben habe, werde ich für meine Forschung zu dieser Thematik nun von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften mit einem wirklich wunderbaren Stipendium gefördert. Im Dialog mit Expert:innen verschiedenster Bereiche kann ich hier über KI diskutieren. Nun ist gerade ein kleiner Aufsatz erschienen, der einige der Gedanken, die mich im Hinblick auf dieses Projekt umtreiben, zusammenfasst. Das kurze Essay erschien in der Zeitschrift Amt und Gemeinde (kurz AuGe bzw. "auge") der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich, welche das Ziel hat, auch Interessierten außerhalb der Forschung Zugang zu aktuellen theologischen Debatten zu geben. Das aktuelle Heft 1/2025 beschäftigt sich mit "Zukunft, Hoffnung, Eschatologie" und ich durfte in meinem Beitrag skizzieren, wie ich mir eine "Theologie der Zukunft" vorstelle. In dem kurzen Aufsatz skizziere ich, weshalb ich einerseits denke, dass KI die Rolle religiöser Texte als Heilige Schriften und Grundlage von Theologie herausfordert, warum ich aber andererseits denke, dass durchaus eine Chance darin liegen könnte, wenn man sich dieser Herausforderung stellt. Die gesamte Ausgabe kann man hier bestellen. Freundlicherweise hat die Redaktion mir erlaubt, den Beitrag frei zugänglich zu machen. Man kann ihn hier lesen oder herunterladen.
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