Die ersten Christen im römischen Reich - Drückeberger oder Revolutionäre?
- Christoph Heilig
- vor 3 Tagen
- 6 Min. Lesezeit
Für lange Zeit war die Forschung zum frühen Christentum von der Annahme geprägt, dass das römische Reich in vielem einem modernen Rechtsstaat entsprach und die ersten Anhänger des jüdischen Messias Jesus keine Sorge vor Verfolgung zu haben brauchten. (Letztendlich geht diese Vorstellung auf frühchristliche Autoren zurück, welche mit Blick auf ihre prekäre Gegenwart die angebliche Rechtssicherheit in früheren Zeiten betonten, um römische Offizielle zu ihren Zeiten zu entsprechend mildem Vorgehen zu motivieren - und die damit bis heute Historiker:innen aufs Glatteis geführt haben.) Entsprechend hoch sei die Meinung vom römischen Reich und seinem Kaiser etwa beim Apostel Paulus, wenn der in Römer 13 zur Unterordnung unter die Staatsgewalt und zum braven Steuerzahlen aufzufordern und dabei noch die staatliche Todesstrafe theologisch zu legitimieren scheint.
Dass an diesem Bild irgendetwas schief ist, deutet sich schon durch die Tatsache an, dass genau dieser Paulus dann wenige Jahre später wohl von exakt dem Kaiser hingerichtet wird, den er hier als göttlich legitimiert und gerecht zu preisen scheint. Das könnte man nun noch mit einer gehörigen Portion Naivität erklären, einfach annehmen, der Apostel habe zu diesem Zeitpunkt nur gute Erfahrung mit römischer Reichsverwaltung gemacht gehabt, gefährlich sei es für die Christ:innen erst geworden, als sich römische Cäsaren wie der "verrückt" gewordene Nero dann nicht mehr an die Regeln hielten oder gar, wie Domitian, ein Gesetz gegen die Christen erließen.
Problematisch ist an diesem Rettungsversuch aber nicht nur, dass es eine derartige Entwicklung der Gesetzeslage schlicht nie gab - das Christentum nie illegal, aber eben auch (von Anfang an!) nie ungefährlich war, exakt weil römische Willkür und damit Hinrichtungen von Christ:innen immer möglich waren (mehr dazu hier). Historisch unglaubwürdig ist diese Annahme schlicht auch deswegen, weil sie unterstellt, ein Paulus sei sich nicht bewusst gewesen, dass er einer Person nachfolgte, die vom römischen Statthalter Pilatus jedem Rechtsempfinden widersprechend exekutiert worden war. Wir (damit meine ich mich und sicher die allermeisten Leser:innen dieses Blogs) in unserer komfortablen Situation heute kaum damit rechnen müssen, von Handlangern eines Unrechtsstaats auf grausamste Weise gefoltert und getötet zu werden, haben das Gefühl dafür verloren, wie erschütternd die Rede vom Kreuz in der Antike eigentlich ist. Man stelle sich nur mal vor, es gäbe einen Erlass, Miniaturen von elektrischen Stühlen in Gebäuden des bayerischen Staates anzubringen ...
Seit Mitte der 1990er Jahre formierte sich Widerspruch gegen das herrschende Paradigma, unter anderem sensibilisiert durch postkoloniale Einsichten. Der Hauptschwerpunkt lag dabei jedoch auf der Reinterpretation von biblischen Texten, die bisher als unkritische Akzeptanz römischer Herrschaft verstanden wurden - und auf der Aufdeckung bisher angeblich übersehener Kritik an römischer Ideologie in auf den ersten Blick harmlosen Passagen. Die frühen Christ:innen hätten durchaus Kritik am römischen Reich geäußert - nur, so die These, eben im Subtext, weil offener Widerstand zu gefährlich gewesen, sofort sanktioniert worden, wäre. (Natürlich hat diese historische Revision auch weitreichende Implikationen für die Gegenwart, verändert sie doch die Materialbasis für eine biblisch begründete politische Ethik radikal!)
Ein Hauptvertreter dieses neuen Ansatzes, der gerade in der Paulusexegese virulent wurde, war und ist N. T. Wright, damals Bischof von Durham, später dann Professor in St Andrews (wo ich unter ihm studierte). In zahlreichen Publikationen legte er seine Sicht dar, am besten in meinen Augen in diesem kleinen Paulusbüchlein aus dem Jahr 2005. Die Thesen stießen jedoch auch auf heftigen Widerspruch, der in einer Replik von John M. G. Barclay, damals Lightfoot Professor an der Universität Durham, bei der jährlichen SBL-Konferenz 2007 gipfelte, welche hier nachgelesen werden kann und von vielen als Todesstoß der anti-imperialen Paulusauslegung betrachtet wurde.
Ich selbst hatte schon als Student durch eine gewisse wissenschaftstheoretische Vorbildung bemerkt, dass Barclay zwar wichtige Einwände vorgebracht hatte, die Thematik aber keinesfalls abschließend geklärt war. Meine erste Monographie, Hidden Criticism? (2015 bei Mohr Siebeck erschienen, im günstigen Paperback später bei Fortress nachgedruckt, mittlerweile auch im Open Access erschienen), analysierte daher die argumentativen Strukturen dieses Diskurses und wies nach, dass Wrights These grundsätzlich durchaus, zumindest mit manchen Modifikationen, eine gewisse Triftigkeit hatte. Es freut mich sehr, dass sich dieses Erstlingswerk sowohl nach Ansicht der Befürworter:innen als auch der Kritiker:innen der Subtext-Hypothese früh als Standardwerk etabliert hat (siehe etwa die Stimmen hier). Zwei Jahre später, 2017, publizierte ich dann eine weitere Monographie, diesmal bei Peeters (Paul’s Triumph, mehr dazu hier), die an einem konkreten Textbeispiel, der Rede vom Triumphzug in 2. Korinther 2,14, die exegetische Plausibilität des Ansatzes demonstrierte. (Für die beiden Monographien erhielt ich zusammen den Mercator Award der Geistes- und Sozialwissenschaften 2018, welcher unter anderem die Innovativität und Gesellschaftsrelevanz der Forschung auszeichnet.)
Seitdem habe ich kontinuierlich an dem Thema weitergearbeitet und beobachte zu meiner Freude eine immer größer werdende Differenziertheit der Diskussion im Feld. Dass die Suche nach Herrschaftskritik in frühchristlichen Schriften durchaus zuweilen wertvolle Erkenntnisse liefern kann, wird immer mehr anerkannt. Ein erledigtes Thema ist es auf jeden Fall nicht. Besonders dankbar bin ich dafür, dass John Barclay das Vorwort zu meiner 2022 bei Eerdmans erschienenen Monographie The Apostle and the Empire schrieb, in der ich meine Position nochmals aktualisierte. Aber auch von Seiten derer, die nach imperiumskritischen Untertönen in neutestamentlichen Schriften suchen, hört man neuerdings auch andere kritische Töne, nämlich selbstkritische: Es setzt sich immer mehr ein Bewusstsein dafür durch, dass man sich davor hüten muss, das römische Reich als omnipräsenten Gegenspieler – und somit als alles bestimmende Interpretationslinse – anzunehmen, dass dadurch teilweise tatsächliche pointierte Kritik sogar im Rauschen des angeblichen Dauerzynismus untergeht.
In meinen Augen speist sich diese zunehmende Differenziertheit der Situation aus einer stetig wachsenden Wertschätzung für die Komplexität der Lebensrealität der ersten Christ:innen auf der einen Seite und eine größere methodische Sorgfalt auf der anderen Seite, welche den Facettenreichtum der untersuchten Texte besser hervortreten lässt. Vor diesem Hintergrund ist es mir nun eine besondere Freude, eine Publikation vermelden zu dürfen, die in meinen Augen einen Meilenstein in der Erforschung des Aushandelns frühchristlicher Existenz im römischen Reich darstellt – einen Sammelband mit dem bewusst doppeldeutigen Titel Empire Criticism of the New Testament, welches ich hier stolz präsentiere:

Dieser von mir herausgegebene Band - der vor allem durch informelle Gesprächsrunden zum Thema Römisches Reich bei den jährlichen SBL-Treffen motiviert wurde - erschien soeben bei Mohr Siebeck und ist auf der Webseite des Verlags im Open Access frei zugänglich (nämlich hier)! Worum es in dem Buch genau geht, macht die Produktbeschreibung gut deutlich:
The question of how early Christians navigated their daily existence within the Roman Empire, and to what degree they expressed criticism of their imperial surroundings, has become a subject of heated debate in recent years. This volume gathers experts who focus on one methodological approach each to shed new light on this question. In doing so, this collection moves from simply debating whether or not early Christians expressed criticism of the Roman Empire to offering detailed analyses of complex dynamics. It turns out that precisely by applying empire criticism as an analytical lens to these texts - critically sifting through them from various angles with an eye to all kinds of interaction with the Roman sphere - empire criticism within these texts becomes visible time and again. Each contribution offers an important perspective to a multifaceted image - one that allows for variegated forms and fronts of critical interaction by early Christian writers. The volume thus shows that situating these texts within their imperial contexts by considering material culture and up-to-date theoretical frameworks is a crucial task for New Testament and early Christian studies. Due to its distinctive layout, with each specialist first introducing an analytical tool before then applying it in a nuanced way to primary texts, this volume not only provides both a definitive account of where the field stands and charts new territory for future research but also serves as a textbook for advanced students.
Die in separaten Kapitel abgedeckten methodischen Zugänge sind die Folgenden:
Ich selbst: Narratology
Justin Winzenburg: Speech Act Theory
Laura J. Hunt: Semiotics
Erin M. Heim: Metaphor Theories
Christopher A. Porter: Social Identity Theory
Nils Neumann: Historical Psychology
Laura Robinson: Hidden Transcripts
Najeeb T. Haddad: Ancient Rhetoric
Gillian Asquith: Papyrology
D. Clint Burnett: Epigraphy
Michael P. Theophilos: Numismatics
Harry O. Maier: Iconography
Mir war gerade vor dem Hintergrund meiner Forschung zu KI und speziell angesichts der von mir erwarteten Umwälzungen in den Geisteswissenschaften (worauf ich auch kurz im Vorwort eingehe) wichtig, dass der Band nicht nur einen Beitrag an der vordersten Front der Forschung liefert und unser Erkenntnisgebiet in verschiedene Richtungen signifikant erweitert, sondern dass der Aufbau des Bandes und die Gestaltung der einzelnen Kapitel darauf abgestimmt sind, dass das Buch auch für die Gestaltung von Seminaren im Hochschulbereich genutzt werden können. Ich bin daher den Beitragenden nicht nur dankbar, dass sie es auf ganz vorzügliche Weise geschafft haben, oft durch wahre Pionierleistungen, grundlegende methodische Zugänge auf die Frage der Imperiumskritik zu übertragen, sondern sich zudem Mühe gegeben haben, Leser:innen ohne große Vorkenntnisse der jeweiligen Ansätze eine gute Einführung in die jeweiligen Werkzeuge zu bieten.
Ich habe große Hoffnungen, dass dieser Band (auf die im Vorwort näher entfaltete Weise) die Diskussion ganz neu entfachen und über Jahrzehnte auf positive Weise, als wichtiger Impetus, dem hoffentlich noch viele folgen werden, prägen wird. Zum Abschluss möchte ich noch die sehr freundliche Einschätzung von John Barclay, mittlerweile emeritierter Lightfoot-Professor, zitieren, die einer der Gründe dafür ist, dass ich diese Zuversicht hege:
This outstanding set of freshly commissioned essays brings nuance and methodological rigor to an important debate, providing both accessible introductions to relevant methods and tools, and full case studies from the New Testament. The compilation creates a superb resource for both scholars and advanced students, and takes analysis of the critical interaction between the New Testament and its Roman environment to a new level. This is the kind of scholarly project - open, critical, nuanced, and deeply researched - that gives one hope for the future of our discipline.






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