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Nicht ganz ein Wort ...

von Han Kang

übersetzt von Dr. Christoph Heilig

Originaltitel: 이것은 만우절 농담입니다. 인공지능이 쓴 글이에요. 누가 눈치챌지 한번 봅니다...

Der Schlüssel drehte sich schwer im Schloss, als hätte er vergessen, wie man eine Tür öffnet. Min-ji stand einen Moment im Halbdunkel des Treppenhauses, bevor sie über die Schwelle trat. Die Luft im Inneren war anders als in ihrer Erinnerung – stiller, dichter, ein Gemisch aus Medikamenten und dem schwachen Nachhall getrockneter Kräuter.

„Ich bin da", sagte sie in die Stille hinein. Ihre Stimme klang fremd nach all den Jahren, in denen sie Englisch und Deutsch gesprochen hatte.

Das Appartement schien kleiner geworden zu sein, die Wände näher zusammengerückt. Durch die halbgeöffneten Vorhänge fiel spätes Nachmittagslicht in schmalen Streifen auf den Boden. Min-ji folgte ihnen wie einer Spur durch den Flur bis ins Wohnzimmer.

Ihre Mutter saß am Fenster, den Rücken gerade, die Hände im Schoß gefaltet. Sie blickte auf die schmale Gasse hinaus, wo ein alter Nachbar seine Wäsche auf einer improvisierten Leine zwischen zwei Fenstern aufhängte. Die Bewegung ihres Kopfes, als Min-ji eintrat, war kaum wahrnehmbar.

„Mutter", sagte Min-ji und stellte ihren Koffer ab. „Ich bin zurück."

Die Frau am Fenster wandte langsam den Kopf. In ihrem Gesicht suchte Min-ji nach Spuren der energischen Lehrerin, die einst Schulklassen mit ihrer bloßen Präsenz zum Schweigen gebracht hatte. Die Augen ihrer Mutter waren noch dieselben, aber etwas in ihnen hatte sich zurückgezogen, als betrachteten sie die Welt aus großer Entfernung.

„Die Blätter", sagte ihre Mutter leise, fast unhörbar. „Sie fallen zu früh."

Min-ji folgte ihrem Blick zum Fenster. Die Bäume in der engen Straße trugen noch ihr volles Sommerlaub.

„Ich mache uns Tee", sagte Min-ji, obwohl sie nicht wusste, ob ihre Mutter sie überhaupt gehört hatte.

In der Küche fand sie alles in präziser Ordnung – die Tassen nach Größe sortiert, die Teesorten in beschrifteten Dosen. Die Pflegerin, die bisher hier gewesen war, hatte gute Arbeit geleistet. Min-ji öffnete eine Dose mit grünem Tee und atmete den vertrauten Duft ein. Ihre Hände bewegten sich in den Mustern ihrer Kindheit, als hätten sie nie etwas anderes getan.

Als sie mit dem Tee zurückkam, hatte ihre Mutter sich nicht bewegt.

„Hier", sagte Min-ji und stellte die Tasse neben sie. „Vorsicht, er ist heiß."

Ihre Mutter nahm die Tasse nicht. Stattdessen sagte sie: „Die Zugvögel kommen nicht mehr."

Min-ji wusste nicht, was sie antworten sollte. Sie setzte sich auf die Kante des Sofas, das Zimmer zwischen ihnen wie ein kleines Meer.

Später trug sie ihren Koffer in ihr altes Zimmer. Die Tür öffnete sich mit einem vertrauten Knarren. Drinnen war alles, wie sie es verlassen hatte – das schmale Bett, der Schreibtisch unter dem Fenster, die Bücherregale mit den Biologiebänden. An der Wand hing noch immer die Sammlung gepresster Pflanzen, die sie als Teenagerin angelegt hatte. Min-ji trat näher und berührte vorsichtig das Glas über einem getrockneten Farnblatt. Die Beschriftung darunter, in ihrer sorgfältigen Handschrift, verblasste an den Rändern: Asplenium antiquum, gefunden am Hang des Bukhan-Berges.

Sie öffnete den Koffer und begann methodisch auszupacken. Ihre Kleidung fand Platz in der Kommode, als hätte sie dort auf sie gewartet. Dann kamen die Forschungsunterlagen – Notizbücher, Skizzen, Fotografien von Pflanzen in verschiedenen Wachstumsstadien. Sie legte sie auf den Schreibtisch, ein Stapel Papier, der ihr ganzes Leben der letzten Jahre enthielt.

Als ihr Telefon klingelte, zuckte sie zusammen. Die Nummer auf dem Display gehörte zum Forschungsinstitut.

„Min-ji-ssi", sagte eine höfliche Männerstimme. „Wir hoffen, Ihre Ankunft verlief gut."

Sie antwortete mit einstudierten Höflichkeitsformeln, während ihr Blick durch das Fenster auf die schmale Straße fiel, wo die Schatten länger wurden.

„Wir haben alles für Ihre Forschung vorbereitet", fuhr die Stimme fort. „Das Labor steht Ihnen ab morgen zur Verfügung. Wir verstehen natürlich Ihre familiäre Situation und haben flexible Arbeitszeiten arrangiert."

Min-ji hörte zu, während ihre Finger über die Oberfläche eines Notizbuchs strichen, in dem sie die Entwicklung der Koreakiefer dokumentiert hatte, die kaum noch in freier Wildbahn zu finden war. Die Pflanze hatte eine ungewöhnliche Widerstandsfähigkeit gezeigt, eine Anpassungsfähigkeit, die Min-ji in all den Jahren im Ausland nicht vergessen hatte.

„Danke", sagte sie schließlich. „Ich werde morgen da sein."

Als sie auflegte, hörte sie ein leises Geräusch an der Tür. Ihre Mutter stand dort, eine Hand am Türrahmen, und betrachtete die Pflanzensammlung an der Wand. Für einen Moment schien etwas in ihrem Blick aufzuleuchten, ein Funke Wiedererkennen.

„Die Wurzeln", sagte sie. „Man muss die Wurzeln finden."

Dann wandte sie sich ab und ging den Flur hinunter, ihre Schritte leicht und unsicher wie fallende Blätter.

Der Staub tanzte im Licht der untergehenden Sonne, als Min-ji die Abstellkammer betrat. Drei Tage waren vergangen, und das Haus fühlte sich immer noch fremd an, wie ein Kleidungsstück, das zu lange im Schrank gehangen hatte. Sie hatte begonnen, jeden Winkel zu reinigen, nicht nur aus praktischen Gründen, sondern weil die methodische Arbeit ihr half, die Stille zwischen ihr und ihrer Mutter zu ertragen.

Die Abstellkammer war klein, kaum mehr als ein Schrank mit einer niedrigen Decke. Min-ji kniete auf dem Boden und wischte Staub von Kisten mit alten Schulbüchern und verblichenen Fotoalben. Als sie den Lappen über die Dielen führte, blieb er an einer Unebenheit hängen. Sie fuhr mit den Fingern über die Stelle und spürte, wie das Holz nachgab.

Eine der Dielen war locker.

Min-ji drückte an der Kante, und die Platte hob sich leicht. Mit den Fingernägeln zog sie sie heraus. Darunter lag ein Hohlraum, in dem eine rechteckige Metallbox ruhte, vom Staub der Jahre bedeckt.

Sie zog die Box hervor und öffnete den Verschluss. Der Geruch von altem Papier stieg auf, ein Duft wie von getrockneten Blumen. Obenauf lag ein in blaues Leinen gebundenes Buch. Min-ji nahm es heraus und schlug es auf. Die erste Seite war leer bis auf ein Datum: 15. Mai 1979.

Die Handschrift kannte sie. Es war die ihrer Mutter, aber anders als die ordentlichen Zeichen, die sie aus Notizen und Einkaufslisten kannte. Diese Schrift war hastig, die Zeichen drängten sich, als hätten die Gedanken nicht genug Platz gehabt.

Soo-jin kam heute von der Universität zurück. Sie spricht von nichts anderem als den Studentenversammlungen. Ich habe Angst, dass sie in Schwierigkeiten gerät, aber sie lacht nur und sagt, ich sei zu ängstlich. Vielleicht hat sie recht. Vielleicht bin ich zu vorsichtig geworden.

Min-ji blätterte weiter. Unter dem Tagebuch lagen Fotos, die Ecken eingerollt vom Alter. Auf einem erkannte sie eine junge Frau, die ihrer Mutter so ähnlich sah, dass sie für einen Moment dachte, es sei ein Bild aus deren Jugend. Doch dann bemerkte sie die Unterschiede – ein offeneres Lächeln, eine andere Art, den Kopf zu halten. Die junge Frau trug einen Universitätsausweis an einer Kordel um den Hals und hielt ein dickes Buch in der Hand, auf dessen Einband Min-ji den Titel "Flora der koreanischen Halbinsel" entziffern konnte.

Unter den Fotos lagen vergilbte Zeitungsausschnitte, die Ränder brüchig. "Unruhen in Gwangju", lautete eine Überschrift. "Militär setzt Gewalt gegen Demonstranten ein." Ein weiterer Artikel berichtete von "vermissten Studenten" und "ungeklärten Todesfällen".

Min-ji las weiter im Tagebuch:

18. Mai 1980. Soo-jin ist nach Gwangju gefahren, obwohl ich sie angefleht habe zu bleiben. Sie sagte, sie müsse dabei sein, müsse Zeugnis ablegen. Sie nahm nur einen kleinen Rucksack mit und ihre Pflanzenbücher. Als ob sie zu einer Exkursion aufbräche und nicht zu einem Protest. Ich kann nicht schlafen.

21. Mai 1980. Keine Nachricht von Soo-jin. Die Berichte aus Gwangju sind verwirrend. Im Radio sagen sie eine Sache, aber die Studenten, die zurückkommen, erzählen anderes. Von Schüssen, von Blut auf den Straßen.

27. Mai 1980. Immer noch kein Wort. Ich habe bei allen angerufen, die ich kenne. Niemand hat sie gesehen.

Die Einträge wurden kürzer, verzweifelter. Min-ji blätterte durch die Seiten, las von Besuchen bei Behörden, von abgewiesenen Anfragen, von Träumen, in denen ihre Mutter Soo-jin sah, wie sie durch einen Wald lief, Pflanzen sammelte, als wäre nichts geschehen.

Der letzte Eintrag war vom 15. September 1980:

Heute kam ein Brief vom Ministerium. Sie sagen, es gäbe keine Aufzeichnungen über Soo-jin in Gwangju. Als hätte sie nie existiert. Als wäre sie nur ein Schatten gewesen. Vielleicht ist es besser so. Vielleicht ist es sicherer, zu vergessen. Aber wie vergisst man eine Schwester?

Min-ji starrte auf die Seite. Eine Tante. Eine Schwester ihrer Mutter, von der sie nie gehört hatte. Eine Botanikerin, wie sie selbst.

Ein Geräusch ließ sie aufblicken. Ihre Mutter stand im Türrahmen der Abstellkammer, die Augen weit aufgerissen. Sie starrte auf das Tagebuch in Min-jis Händen, und etwas in ihrem Blick veränderte sich. Ihr Körper begann zu zittern, erst leicht, dann stärker, als stünde sie in einem kalten Wind.

"Mutter", sagte Min-ji und erhob sich langsam. "Es tut mir leid, ich wollte nicht—"

Ein Laut kam aus der Kehle ihrer Mutter, nicht ganz ein Wort, mehr ein erstickter Schrei. Sie hob die Hände, als wolle sie etwas abwehren.

"Mutter, bitte", sagte Min-ji und trat auf sie zu. "Warum hast du mir nie von Soo-jin erzählt?"

Ihre Mutter wich zurück, stolperte fast. Ihre Augen huschten zwischen Min-jis Gesicht und dem Tagebuch hin und her. Dann drehte sie sich um und eilte den Flur hinunter, ihre Schritte unsicher, aber getrieben von einer plötzlichen Energie.

Min-ji folgte ihr ins Wohnzimmer, das Tagebuch noch in der Hand. Ihre Mutter hatte sich in die Ecke des Sofas gepresst, die Knie an die Brust gezogen, die Arme um die Beine geschlungen. Sie sah aus wie ein Kind, das sich vor einem Gewitter versteckt.

"Mutter", versuchte es Min-ji noch einmal. "Bitte, sprich mit mir."

Aber ihre Mutter schloss die Augen und schüttelte den Kopf, eine kleine, verzweifelte Bewegung. Ihr Gesicht hatte sich verschlossen wie eine Tür, hinter der ein Sturm tobte.

Min-ji setzte sich auf den Sessel gegenüber und wartete. Die Minuten verstrichen. Draußen wurde es dunkel. Schließlich stand sie auf und bereitete Abendessen zu, stellte einen Teller neben ihre Mutter, die unbeweglich blieb.

Als sie später nach ihr sah, hatte ihre Mutter sich nicht gerührt. Der Teller war unberührt. Ihre Augen starrten auf einen Punkt an der Wand, als sähe sie dort etwas, das nur für sie sichtbar war.

Min-ji nahm das Tagebuch mit in ihr Zimmer und las bis tief in die Nacht. Die Worte ihrer Mutter, geschrieben vor mehr als dreißig Jahren, sprachen zu ihr aus einer Welt, die so anders war. Gefährlicher. Aber auch klarer in ihren Konturen. Eine Zeit vor dem Vergessen, eine Zeit vor dem Verwelken.

Der Geruch des Labors – eine Mischung aus Erde, Desinfektionsmittel und dem leichten Aroma der Pflanzen – umhüllte Min-ji wie eine zweite Haut. Das Licht fiel durch die hohen Fenster in perfekten Winkeln auf die Arbeitsflächen. Hier herrschte eine andere Art von Stille als zu Hause – eine Stille, die von Konzentration und nicht von Abwesenheit geprägt war.

Min-ji arrangierte ihre Werkzeuge mit der Präzision eines Chirurgen: die feinen Pinzetten, die Pipetten, die kleinen Scheren für die Gewebeproben. Ihre Finger bewegten sich in vertrauten Mustern, während sie die Kulturgefäße vorbereitete. In einem der Behälter wuchs ein unscheinbares Pflänzchen mit schmalen, graugrünen Blättern – Stellera chamaejasme, in Korea nur noch in den abgelegensten Winkeln des Taebaek-Gebirges zu finden.

"Sie sieht gesünder aus als gestern", bemerkte eine Stimme hinter ihr.

Min-ji drehte sich nicht um. Sie kannte Dr. Parks Angewohnheit, lautlos aufzutauchen. "Ich habe die Nährlösung angepasst", sagte sie. "Mehr Kalium, weniger Stickstoff."

Dr. Park trat neben sie, seine Brille rutschte auf seiner Nase nach unten, als er sich über das Pflänzchen beugte. Er war ein schmaler Mann mit gebückter Haltung, als trüge er das Gewicht seiner jahrzehntelangen Forschung physisch mit sich.

"Bemerkenswert", murmelte er. "Ich habe die Wachstumsraten verglichen. Sie entwickelt sich dreimal so schnell wie in allen dokumentierten Fällen. Was ist Ihr Geheimnis, Min-ji-ssi?"

Min-ji zuckte mit den Schultern. "Vielleicht hat sie nur auf die richtige Berührung gewartet."

Dr. Park lächelte dünn. "Manchmal denke ich, dass Pflanzen uns wählen, nicht umgekehrt."

Min-ji antwortete nicht. Sie dachte an die Einträge in Soo-jins Tagebuch, die sie letzte Nacht gelesen hatte – Notizen über eine Exkursion ins Taebaek-Gebirge, über die Entdeckung einer isolierten Population von Stellera chamaejasme, über die Vermutung, dass diese Pflanze Eigenschaften besitzen könnte, die noch niemand dokumentiert hatte.

"Ich werde heute länger bleiben", sagte sie schließlich. "Die Gewebeproben müssen alle drei Stunden kontrolliert werden."

Dr. Park nickte und ließ sie allein.

Die Stunden im Labor verflossen wie Wasser. Min-ji verlor sich in der Arbeit, in der beruhigenden Routine von Messungen und Beobachtungen. Hier existierte die Zeit in anderen Dimensionen – gemessen in Millimetern Wachstum, in der Anzahl neuer Blätter, in der Veränderung der Zellstrukturen unter dem Mikroskop.

Als sie nach Hause kam, war es bereits dunkel. Die Wohnung empfing sie mit der gewohnten Lehre. Ihre Mutter saß am Küchentisch, vor ihr ein unberührter Teller.

"Ich bin zurück", sagte Min-ji und stellte ihre Tasche ab. "Hast du gegessen?"

Ihre Mutter blickte auf, aber ihr Blick schien durch Min-ji hindurchzugehen, als wäre sie transparent.

Min-ji seufzte und begann, den Teller abzuräumen. Die Routine der nächsten Stunde hatte sich in den vergangenen Wochen eingeprägt wie ein Tanz, dessen Schritte sie im Schlaf beherrschte: das Essen aufwärmen, ihrer Mutter helfen zu essen, die Medikamente vorbereiten, das Bad einlassen, die dünnen Glieder waschen, die sich manchmal gegen ihre Berührungen versteiften, manchmal schlaff und nachgiebig waren.

Später, als ihre Mutter schlief, holte Min-ji das Tagebuch hervor. Sie las bei schwachem Lampenlicht, während draußen der Regen gegen die Fenster schlug. Zwischen den Seiten stießen ihre Finger immer wieder auf dünne, sorgfältig gefaltete Blätter – Briefe, die ihre Mutter zwischen den Tagebuchseiten aufbewahrt hatte. Min-ji zog einen heraus, datiert auf April 1979. Die Handschrift war feiner als die im Tagebuch.

Liebste Schwester, heute habe ich die Stellera im Labor untersucht. Professor Kim sagt, ich verschwende meine Zeit mit einer Pflanze, die botanisch uninteressant sei. Aber er irrt sich. Unter dem Mikroskop zeigen die Zellen eine Struktur, die ich noch nie gesehen habe. Als hätten sie ein Gedächtnis. Als könnten sie sich erinnern.

Min-ji blätterte weiter und fand zwischen den Seiten weitere Brieffragmente. Die Beschreibungen in ihnen wurden detaillierter, wissenschaftlicher. Soo-jin hatte ihrer Schwester von ihren Experimenten berichtet, hatte beschrieben, wie sie die Pflanze extremen Bedingungen ausgesetzt hatte – Hitze, Kälte, Trockenheit – und ihre erstaunliche Anpassungsfähigkeit dokumentiert.

Aus einem späteren Brief, datiert auf Februar 1980, las sie:

Ich habe die Probe aus dem Taebaek-Gebirge mit den Exemplaren aus dem botanischen Garten verglichen. Sie sind genetisch identisch, und doch verhält sich die Wildform anders. Sie reagiert auf Berührung, auf Stimmen sogar. Manchmal glaube ich, sie wächst schneller, wenn ich mit ihr spreche. Verrückt, ich weiß. Aber die Daten lügen nicht.

Am Rand dieses letzten Briefes hatte ihre Mutter mit zittriger Handschrift notiert: "Ihre letzte Nachricht vor Gwangju."

Min-ji rieb sich die brennenden Augen. Die Parallelen zu ihrer eigenen Forschung waren geradezu unheimlich. Als hätte sie unbewusst den Pfad ihrer Tante weiterverfolgt, ohne von ihrer Existenz zu wissen.

Die Tage und Wochen verschmolzen zu einem Rhythmus aus Labor und Pflege. Min-ji bewegte sich zwischen diesen Welten wie ein Pendel, nie ganz in der einen, nie ganz in der anderen. Die Pflanze im Labor gedieh unter ihrer Betreuung, entwickelte neue Triebe, während ihre Mutter langsam zu schwinden schien, Wort für Wort, Geste für Geste.

An manchen Tagen sprach ihre Mutter überhaupt nicht. An anderen murmelte sie unzusammenhängende Sätze, Fragmente von Erinnerungen, die Min-ji nicht einordnen konnte. Die Pflegerin, die kam, wenn Min-ji im Labor war, berichtete von zunehmender Verwirrung, von Nächten, in denen ihre Mutter nach jemandem rief, dessen Namen sie nicht verstehen konnte.

Eines Abends, als Min-ji von der Arbeit zurückkehrte, fand sie ihre Mutter nicht im Wohnzimmer oder in der Küche. Panik stieg in ihr auf, bis sie ein Geräusch aus ihrem eigenen Zimmer hörte. Ihre Mutter stand vor dem Regal mit den gepressten Pflanzen, die Finger auf dem Glas über einem getrockneten Exemplar.

"Mutter?", sagte Min-ji vorsichtig.

Ihre Mutter drehte sich um, und für einen Moment war ihr Blick klar, fokussiert. "Die Pflanzen im Labor", sagte sie mit einer Stimme, die fester klang als in den vergangenen Wochen. "Wachsen sie?"

Min-ji nickte langsam. "Ja. Sie gedeihen gut."

"Soo-jins Vermächtnis", sagte ihre Mutter. "Sie wusste es. Sie hat es immer gewusst."

Min-ji trat näher. "Was wusste sie, Mutter?"

Aber der Moment der Klarheit verging so schnell, wie er gekommen war. Ihre Mutter blinzelte, und der Nebel kehrte in ihre Augen zurück. Sie ließ die Hand sinken und wandte sich ab, ein leeres Gefäß, aus dem die Worte wieder entwichen waren.

Min-ji führte sie zurück ins Wohnzimmer, half ihr, sich zu setzen. Ihre Gedanken rasten. Was hatte Soo-jin gewusst? Was hatte sie entdeckt, das so wichtig war, dass ihre Mutter es nach all den Jahren des Schweigens erwähnte?

In dieser Nacht träumte Min-ji von Pflanzen, die aus Betonrissen wuchsen, von Blättern, die sich wie Hände öffneten, von einer jungen Frau, die ihr so ähnlich sah, dass sie hätte ihre Schwester sein können, die im Mondlicht Samen sammelte und in die Erde legte, als vergrübe sie einen Schatz.

Die Worte ihrer Mutter – Soo-jins Vermächtnis – hallten in Min-jis Gedanken nach, während sie die breiten Stufen der Seoul National University hinaufstieg. Der Campus hatte sich seit den Tagen ihrer Tante verändert, moderne Glasfassaden standen neben den älteren Steingebäuden wie Zeitreisende aus verschiedenen Epochen.

Das Universitätsarchiv lag im Untergeschoss der Hauptbibliothek, ein labyrinthisches System aus Metallregalen und klimatisierten Räumen. Min-ji hatte einen Termin vereinbart, ihre Forschungsposition am Institut als Türöffner genutzt.

"Wir haben die Unterlagen der botanischen Fakultät aus den späten Siebzigern hier", sagte die Archivarin, eine Frau mit randloser Brille und präzisen Bewegungen. Sie stellte drei Kartons auf den Tisch. "Aber viele Dokumente aus dieser Zeit sind unvollständig. Sie verstehen."

Min-ji verstand. Die Jahre unter dem Militärregime hatten Lücken hinterlassen, manche absichtlich geschaffen, manche durch die natürliche Erosion der Zeit.

Sie begann zu suchen. Stundenlang blätterte sie durch vergilbte Kursunterlagen, Forschungsberichte, Studentenlisten. Am späten Nachmittag fand sie schließlich Soo-jins Namen in einem Verzeichnis herausragender Abschlussarbeiten: "Anpassungsmechanismen endemischer Pflanzenarten in isolierten Bergregionen Koreas mit besonderem Fokus auf Stellera chamaejasme."

Ihre Finger zitterten leicht, als sie nach dem entsprechenden Ordner suchte. Doch an der Stelle, wo die Arbeit hätte sein sollen, fand sie nur einen verblassten Vermerk: "Entnommen für Überprüfung, Juni 1980."

"Professor Kim", murmelte sie, den Namen aus Soo-jins Notizbuch erinnernd.

Die Archivarin schüttelte den Kopf, als Min-ji sie nach ihm fragte. "Professor Kim ist vor fünfzehn Jahren verstorben. Aber Professor Yoon war damals auch in der Fakultät. Er ist emeritiert, kommt aber manchmal noch zum Kaffeetrinken."

Am nächsten Tag wartete Min-ji in der Fakultätscafeteria. Professor Yoon war kleiner, als sie erwartet hatte, sein Körper von den Jahren gebeugt wie ein vom Wind geformter Baum. Seine Hände zitterten leicht, als er seine Teetasse hob.

"Soo-jin Park", wiederholte er, nachdem Min-ji ihre Frage gestellt hatte. "Natürlich erinnere ich mich an sie. Brillanter Verstand. Sie sehen ihr ähnlich."

"Sie war meine Tante. Ich wusste bis vor kurzem nichts von ihr."

Etwas flackerte in seinen Augen – Verständnis, vielleicht Bedauern. "Diese Zeit hat viele Geschichten verschluckt."

"Ich versuche, ihre Forschung zu verstehen", sagte Min-ji. "Ich arbeite mit derselben Pflanzenart."

Professor Yoon betrachtete sie lange. "Sie hatte eine Theorie, wissen Sie. Über die Stellera. Dass sie nicht nur überleben kann, sondern sich anpassen, sich erinnern. Dass ihre Zellen Informationen speichern und weitergeben, über Generationen hinweg." Er lächelte schwach. "Die meisten hielten es für Fantasie. Aber Soo-jin hatte Beweise. Kurz vor dem Aufstand kam sie zu mir, aufgeregt wie ein Kind. Sie hatte etwas entdeckt – eine Variation der Pflanze, die unter extremem Stress nicht nur überlebte, sondern sich veränderte. Nicht durch langsame Evolution, sondern in einer einzigen Generation."

"Was ist mit ihrer Forschung passiert?"

Der alte Mann senkte den Blick. "Nach ihrem Verschwinden wurden ihre Unterlagen konfisziert. Sicherheitsgründe, hieß es. Aber ich..." Er zögerte, sah sich um, als könnte nach all den Jahren noch jemand lauschen. Dann öffnete er seine abgenutzte Ledertasche und zog ein dünnes, in braunes Papier gewickeltes Bündel hervor. "Ich habe dies aufbewahrt. Es gehörte ihr."

Min-ji nahm das Paket mit zitternden Händen entgegen. Es war ein schmales Notizbuch, die Seiten wellig vom Alter.

"Danke", flüsterte sie.

Professor Yoon berührte kurz ihre Hand. "Sie sollten mit Hee-young Cho sprechen. Sie und Soo-jin waren eng befreundet. Sie lebt noch in Gwangju."

Drei Tage später saß Min-ji in einem kleinen Café in Gwangju, gegenüber einer Frau mit kurzen, grau melierten Haaren und wachen Augen. Hee-young Cho trug eine schlichte Bluse und eine Halskette mit einem kleinen Blattanhänger.

"Sie trug einen blauen Pullover an jenem Tag", sagte Hee-young, nachdem sie sich vorgestellt hatten. "Das ist merkwürdig, nicht wahr? Was man sich merkt. Ein blauer Pullover und ihre Tasche voller Bücher."

Min-ji wartete schweigend. Die Geräusche des Cafés – das Klappern von Tassen, gedämpfte Gespräche – schienen weit weg.

"Wir hatten vereinbart, uns am Brunnen zu treffen. Es war der dritte Tag der Proteste. Die Situation verschlechterte sich." Hee-youngs Finger spielten mit dem Blattanhänger. "Soo-jin kam zu spät. Sie sagte, sie müsse noch einmal zurück zum Labor. Etwas retten, sagte sie. Samenkapseln. Sie hatte sie in speziellen Nährlösungen gezüchtet, und sie fürchtete, dass sie zerstört werden könnten, wenn die Universität geschlossen würde."

"Ist sie zum Labor gegangen?"

Hee-young nickte langsam. "Ich wollte mit ihr gehen, aber sie bestand darauf, dass ich bei den anderen bleibe. Sie sagte, sie würde uns in einer Stunde treffen." Sie hielt inne, ihr Blick in die Ferne gerichtet. "Das war das letzte Mal, dass ich sie sah. Am nächsten Tag begannen die Schüsse."

Min-ji schluckte. "Hat jemand sie gesucht?"

"Alle, die noch konnten. Aber danach... danach war alles anders. Die offiziellen Stellen behaupteten, sie hätten keine Aufzeichnungen über sie. Als hätte sie nie existiert." Hee-young holte tief Luft. "Aber ich glaube, sie wurde verhaftet. Ein Student aus unserem Jahrgang arbeitete als Hausmeister im Verwaltungsgebäude. Er sagte, er hätte ihren Namen auf einer Liste gesehen. Festnahmen wegen subversiver Aktivitäten."

"Was ist mit ihr geschehen?"

Hee-young schüttelte den Kopf. "Manche kamen zurück. Manche nicht."

Sie saßen schweigend, während der Nachmittag um sie herum verblasste. Schließlich zog Hee-young etwas aus ihrer Tasche – ein verblichenes Foto. Es zeigte eine Gruppe junger Menschen vor einem Universitätsgebäude, lachend, die Arme umeinander gelegt. Sie deutete auf eine junge Frau am Rand, die Min-ji bereits aus dem Tagebuch kannte.

"Sie war besonders", sagte Hee-young leise. "Sie glaubte, dass Pflanzen uns überleben würden. Dass sie Geschichten bewahren könnten, die wir vergessen. Manchmal denke ich, sie hatte recht."

Zurück in Seoul, verbrachte Min-ji die Nächte damit, Soo-jins Notizbuch zu studieren. Die Handschrift ihrer Tante war der ihrer Mutter ähnlich, aber präziser, die wissenschaftlichen Beobachtungen durchsetzt mit persönlichen Reflexionen. Sie hatte detaillierte Zeichnungen der Stellera angefertigt, hatte Variationen dokumentiert, die niemand sonst bemerkt hatte.

Eine Passage ließ Min-ji innehalten:

Die Probe aus dem östlichen Hang zeigt eine ungewöhnliche Blütenformation – fünf Blütenblätter statt der üblichen vier, mit einer verdickten Mittelrippe. Unter Stressbedingungen bildet sie vermehrt Anthocyane, die Blüten nehmen eine tiefere Purpurfärbung an. Ich vermute, dass diese Variation eine Anpassung an lokale Bodenbedingungen darstellt, möglicherweise durch Schwermetalle im Grundwasser. Die Pflanze scheint nicht nur zu überleben, sondern zu gedeihen, wo andere Arten absterben.

Als Min-ji am nächsten Morgen das Labor betrat, blieb sie wie erstarrt stehen. Ihre Stellera, die gestern noch unscheinbare Knospen getragen hatte, hatte über Nacht geblüht. Fünf Blütenblätter, tief purpurn, mit einer verdickten Mittelrippe.

Dr. Park stand neben der Pflanze, sein Gesicht eine Mischung aus Verwirrung und Ehrfurcht. "Ich habe so etwas noch nie gesehen", sagte er. "Diese Variation ist in keiner Literatur dokumentiert."

Min-ji trat näher, ihre Finger strichen sanft über ein Blütenblatt. "Doch", sagte sie leise. "Einmal. Vor vierzig Jahren."

Die Pflanze schien unter ihrer Berührung zu pulsieren, ein lebendiges Echo aus der Vergangenheit, das durch die Zeit geflüstert hatte, bis jemand zuhörte.

Der Anruf kam, als Min-ji gerade die Samenkapsel der Stellera unter dem Mikroskop untersuchte. Eine fremde Stimme, präzise und kühl, teilte ihr mit, dass ihre Mutter zusammengebrochen sei. Notaufnahme. Seoul National University Hospital. Min-ji legte auf und starrte auf die Pflanze vor ihr, deren purpurne Blüten sich im Luftzug der Klimaanlage leicht bewegten.

Die Korridore des Krankenhauses waren von einem grünlichen Licht durchflutet, das jeden Schatten aus den Gesichtern der Menschen saugte. Min-ji folgte einer Krankenschwester durch ein Labyrinth aus identischen Gängen. Der Geruch von Desinfektionsmitteln erinnerte sie an das Labor, aber hier fehlte der erdige Unterton des Lebens.

Im Zimmer lag ihre Mutter wie ein gefaltetes Blatt Papier auf dem weißen Bett. Schläuche verbanden ihren Körper mit summenden Maschinen. Der Arzt sprach von einem Schlaganfall, von beschädigten Nervenbahnen, von der Möglichkeit, dass sie nie wieder sprechen würde. Min-ji hörte zu, nickte an den richtigen Stellen, während ein Teil von ihr sich fragte, ob ihre Mutter überhaupt noch etwas zu sagen hatte, was sie nicht bereits in jahrzehntelangem Schweigen ausgedrückt hatte.

Als sie allein waren, setzte Min-ji sich auf den harten Plastikstuhl neben dem Bett. Durch das Fenster fiel spätnachmittägliches Licht, das goldene Rechtecke auf den Boden zeichnete. Sie betrachtete das Gesicht ihrer Mutter – die tiefen Linien um den Mund, die geschlossenen Lider, unter denen die Augen sich bewegten wie Fische unter der Oberfläche eines gefrorenen Sees.

"Ich weiß jetzt alles über Soo-jin", sagte Min-ji leise. Ihre Stimme klang fremd in der antiseptischen Stille des Zimmers. "Ich weiß, was mit ihr geschehen ist."

Die Maschinen piepten gleichmäßig weiter. Min-ji öffnete ihre Tasche und zog Soo-jins Notizbuch heraus. Sie hatte in den letzten Tagen weitere Nachforschungen angestellt, hatte mit ehemaligen Aktivisten gesprochen, Archive durchsucht, die erst seit kurzem zugänglich waren.

"Sie wurde am 21. Mai 1980 verhaftet", fuhr Min-ji fort, während sie durch die Seiten des Notizbuches blätterte. "Sie versuchte, die Samenkapseln aus dem Labor zu retten. Jemand muss sie gesehen und gemeldet haben. Es gibt einen Verhörbericht. Sie haben sie drei Tage lang befragt, wollten Namen von anderen Studenten. Sie hat geschwiegen."

Min-ji hielt inne und blickte aus dem Fenster. Die Sonne stand tief, färbte den Himmel über den Hochhäusern in ein tiefes Orange.

"Am 24. Mai wurde sie in eine Zelle gebracht. Die Aufzeichnungen enden dort. Aber ich habe einen Mann gefunden, der damals im selben Gefängnis war. Er erinnert sich an eine junge Frau, die von den Verhören zurückkam und Blut hustete. Sie starb in der Nacht. Niemand hat es dokumentiert."

Die Worte hingen in der Luft wie Staub in einem Sonnenstrahl. Min-ji fragte sich, ob ihre Mutter sie hören konnte, ob sie in irgendeiner Schicht ihres Bewusstseins die Wahrheit aufnahm, die so lange verborgen gewesen war.

"Ich muss entscheiden, ob ich ihre Geschichte öffentlich machen soll", sagte Min-ji. "Die Kommission für Wahrheit und Versöhnung sammelt noch immer Zeugnisse. Soo-jins Name könnte dort stehen, neben all den anderen."

Sie dachte an die Pflanze im Labor, die gegen alle Wahrscheinlichkeit Samen gebildet hatte. Dr. Park hatte gesagt, es sei ein Durchbruch, der die Art retten könnte. Die genetische Variation, die Soo-jin entdeckt hatte, zeigte eine außergewöhnliche Widerstandsfähigkeit gegen Umweltgifte und Klimaveränderungen. Sie könnte in Gebieten gedeihen, die durch Industrieabfälle kontaminiert waren, könnte helfen, vergiftete Böden zu regenerieren.

Min-ji stand auf und trat ans Fenster. Die Stadt erstreckte sich vor ihr, ein Meer aus Beton und Glas, durchzogen von schmalen Grünstreifen. Irgendwo dort draußen, in den Bergen, wuchsen die letzten wilden Exemplare der Stellera, hielten sich fest an kargen Hängen, überlebten trotz allem.

Am nächsten Morgen kehrte Min-ji mit einem kleinen Topf zurück. Darin wuchs ein Ableger der Stellera, die purpurnen Blüten halb geöffnet in der Morgensonne. Sie stellte ihn auf die Fensterbank, wo das Licht ihn erreichen konnte.

Die Stunden verstrichen. Min-ji las in Soo-jins Notizbuch, machte sich eigene Notizen, plante ihre nächsten Schritte. Am späten Nachmittag bemerkte sie eine Veränderung im Rhythmus der Atemzüge ihrer Mutter. Als sie aufblickte, sah sie, dass die Augen ihrer Mutter geöffnet waren, der Blick auf die Pflanze am Fenster gerichtet.

Min-ji stand auf und trat ans Bett. "Mutter?"

Keine Antwort, nur ein langsames Blinzeln. Doch dann sah Min-ji etwas, das sie seit ihrer Rückkehr nicht mehr gesehen hatte – Tränen, die lautlos über die eingefallenen Wangen ihrer Mutter liefen.

Min-ji nahm vorsichtig die Hand ihrer Mutter, die Haut dünn wie Pergament, die Adern darunter blau und fragil. "Ich weiß jetzt alles", sagte sie sanft. "Über Soo-jin. Über ihre Forschung. Über das, was mit ihr geschehen ist."

Die Finger ihrer Mutter zuckten leicht in ihrer Hand.

"Ihre Arbeit ist nicht verloren", fuhr Min-ji fort. "Die Pflanze, die sie entdeckt hat – ich habe sie gefunden. Oder vielleicht hat sie mich gefunden. Sie bildet Samen, Mutter. Sie wird überleben."

Min-ji erzählte weiter, ihre Stimme leise und gleichmäßig. Sie berichtete von allem, was sie herausgefunden hatte, von den Gesprächen mit Professor Yoon und Hee-young, von den Archiven und den versteckten Dokumenten. Sie sprach von ihrer eigenen Forschung, von den Möglichkeiten, die sich nun eröffneten, von dem Artikel, den sie schreiben würde, mit Soo-jins Namen als Mitautorin.

"Ich werde ihre Geschichte dokumentieren", sagte Min-ji. "Damit sie nicht vergessen wird. Damit ihr Name irgendwo steht."

Etwas veränderte sich im Gesicht ihrer Mutter. Ein Muskel zuckte an ihrer Wange, ihre Lippen bewegten sich lautlos. Dann, mit einer Anstrengung, die Min-ji körperlich spüren konnte, drückte ihre Mutter ihre Hand. Ein schwacher Druck, kaum wahrnehmbar, aber eindeutig absichtlich.

Ihre Mutter hob die freie Hand, die Bewegung mühsam und zitternd, und deutete auf den Nachttisch neben dem Bett.

"Was ist dort?", fragte Min-ji. "Möchtest du etwas?"

Ein schwaches Nicken. Min-ji öffnete die Schublade des Nachttisches. Sie enthielt nur wenige persönliche Gegenstände – eine Haarbürste, eine Lesebrille, ein Notizbuch. Unter dem Notizbuch lag ein Umschlag, vergilbt und mehrfach gefaltet, aber ungeöffnet.

Min-ji nahm ihn heraus und sah ihre Mutter fragend an. Ein weiteres Nicken.

Der Umschlag war mit ihrem Namen beschriftet, die Handschrift ihrer Mutter ordentlich und klar, so anders als die zittrigen Notizen der letzten Jahre. Min-ji öffnete ihn vorsichtig. Darin befand sich ein mehrere Seiten langer Brief, datiert auf den 15. Mai 2010 – dreißig Jahre nach Soo-jins Verschwinden.

Meine liebe Min-ji, wenn du dies liest, bin ich vielleicht nicht mehr in der Lage, dir die Wahrheit selbst zu erzählen. Es gibt eine Geschichte, die ich zu lange verschwiegen habe, aus Angst, aus Scham, aus dem Gefühl, dass manche Wunden besser nicht geöffnet werden...

Min-ji las weiter, die Worte verschwammen manchmal vor ihren Augen. Ihre Mutter erzählte von Soo-jin, von ihrer Kindheit zusammen, von Soo-jins Brillanz und Leidenschaft. Sie schrieb von den Tagen nach ihrem Verschwinden, von den erfolglosen Suchen, von den abgewiesenen Anfragen, von der langsamen, schrecklichen Gewissheit.

Ich habe geschwiegen, weil Schweigen damals Überleben bedeutete. Ich habe geschwiegen, weil ich dich schützen wollte. Aber Schweigen kann auch töten, langsam, von innen heraus. Ich hoffe, dass eines Tages die Wahrheit gesagt werden kann, ohne Angst.

Der Brief endete mit einer Bitte: Wenn die Zeit kommt, wenn es sicher ist, lass ihre Geschichte nicht vergessen sein. Lass ihren Namen nicht verschwinden wie Tinte im Regen.

Min-ji faltete den Brief langsam zusammen und blickte zu ihrer Mutter. "Ich werde es tun", sagte sie leise. "Ich verspreche es."

Ihre Mutter schloss kurz die Augen, ein stilles Einverständnis. Als sie sie wieder öffnete, wanderte ihr Blick zur Pflanze am Fenster, deren Blüten sich im Abendlicht zu schließen begannen. Ein schwaches Lächeln huschte über ihr Gesicht, so flüchtig, dass Min-ji es fast übersehen hätte.

Draußen verdunkelte sich der Himmel. Die Stadt begann zu leuchten, tausende Lichter flammten auf, wie Sterne, die aus der Dunkelheit auftauchten. Min-ji saß still neben dem Bett ihrer Mutter, den Brief in der Hand, und lauschte dem gleichmäßigen Atem, der nun ruhiger schien, befreit von einer Last, die zu lange getragen worden war.

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